Das Verschwinden des Josef Mengele ist ein preisgekrönter Tatsachenroman von Olivier Guez, der in Frankreich sofort zum Sensationsbestseller wurde. Er beschäftigt sich mit dem “Todesengel von Auschwitz“, der für die Ermordung zahlreicher KZ-Insassen verantwortlich war.
Bevor wir uns allerdings mit dem Werk von Guez beschäftigen, sollen zunächst die Fakten geklärt werden – immerhin handelt es sich beim Protagonisten um eine reale Person.
Wer war Josef Mengele?
Mengele wurde 1911 in Günzburg geboren. Nach einem freiwilligen Beitreten zur Waffen-SS im Jahr 1940, wurde er aufgrund seiner medizinischen Kenntnisse von Mai 1943 bis Januar 1945 als Lagerarzt im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz eingesetzt. In dieser Funktion nahm er Selektionen vor, überwachte die Vergasung und führte menschenverachtende medizinische Experimente an Häftlingen durch. Er betrieb unter anderem Studien zur Zwillingsforschung, zu Wachstumsanomalien und zu Methoden der Unfruchtbarmachung von Menschen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde er international als NS-Kriegsverbrecher gesucht, jedoch nie gefasst. Er flüchtete nach Kriegsende nach Südamerika und hielt sich dort in Argentinien, Paraguay und Brasilien auf. An diesem Punkt setzt auch Das Verschwinden des Josef Mengele ein. Er starb 1979 in Bertioga. Er ertrank, als er beim Schwimmen im Meer einen Schlaganfalls erlitt.
Mengele diente auch in Literatur und Film als Vorlage für zahlreiche Figuren. Beispiele hierfür sind der Doktor in Rolf Hochhuths Theaterstück Der Stellvertreter und Dr. Josef Heiter aus dem Horrorfilm The Human Centipede (First Sequence). Interessant ist auch die Inszenierung im deutschen Spielfilm Nichts als die Wahrheit. Hier hat Mengele seinen Tod 1979 nur fingiert und stellt sich zwanzig Jahre später einem Prozess in Deutschland. Gemeinsam haben die meisten Inszenierungen, dass die Figur, die von Mengele inspiriert wurde, das absolute Böse verkörpert.
Wie geht Olivier Guez in Das Verschwinden des Josef Mengele nun mit einem der größten und gefürchtetsten Kriegsverbrecher um?
Klappentext
1949 flüchtet Josef Mengele, der bestialische Lagerarzt von Auschwitz, nach Argentinien. Dreißig Jahre lang lebt er in Südamerika, unterstützt von Sympathisanten vor Ort und seiner Familie in Günzburg. Olivier Guez, der das preisgekrönte Drehbuch zu Der Staat gegen Fritz Bauer schrieb, inszeniert in seinem Tatsachenroman Mengeles jahrzehntelange Flucht, spürt die Helfer und Verfolger auf und konfrontiert uns mit der Inkarnation des Bösen. Es ist das fesselnde Portrait einer fanatischen Bestie, das uns eindringlich vor Augen führt, warum deren Verfolgung so kläglich scheiterte.
Der Charakter des Bösen
Guez beschreibt seinen Protagonisten durchgehend mit negativen Charaktereigenschaften. Mengele ist eitel, habgierig und von Neid zerfressen. Aber vor allem ist er, seiner Ansicht nach, für etwas Größeres vorbestimmt.
Sowohl an der Universität als auch in Auschwitz, er hat sich nie mit dem Fußvolk der SS abgegeben, nur mit den Chefärzten und Lagerkommandanten. Er duldet kein Mittelmaß.
Häufig empfindet man Abscheu für den Protagonisten. Wenn er beschreibt, wie er während seiner Zeit in Auschwitz zweite Flitterwochen mit seiner Ehefrau erlebt, während zehntausende neue Gefangene in Auschwitz ankommen und die Gaskammern auf Hochtouren laufen, ist man fassungslos und benommen. Man begreift diesen Menschen nicht, kann so viel Boshaftigkeit und Ignoranz kaum fassen.
Aber reichen diese Charaktereigenschaften tatsächlich dazu aus, einer der bekanntesten Kriegsverbrecher der Welt zu werden? Nein. Wenn ein solcher Mensch allerdings eine Ideologie der Exklusivität, wie sie von den Nazis gelebt wurde, präsentiert bekommt, stehen die Chancen, dass er sich in dieser wohl fühlt, relativ gut. Der Mensch ist verführbar. In diesem Umfeld kann er seine Eigenart, sein Stehen über allem und jedem vollständig ausleben. Insgesamt kommt diese Verknüpfung in Das Verschwinden des Josef Mengele leider zu kurz. Wir sehen das Böse im Kleinen, der darüberstehende Schrecken wird kaum beachtet. Dementsprechend wird auch nie wirklich versucht zu erklären, wieso denn nun ein Mann wie Mengele in Zeiten des Nationalsozialismus derart aufblühen konnte.
Die Frage der Moral
In meinen Recherchen zu diesem kleinen Beitrag, habe ich sehr oft gelesen, dass Guez vorgeworfen wird, mit einem Nazi-Monster Geld verdienen zu wollen. Es stimmt, von Mengele scheint für unendlich viele Menschen ein absurder Reiz auszugehen. So wurde beispielsweise aufgedeckt, dass sowohl der Stern wie auch Hubert Bunda – Eigentümer der Hubert Burda Media, die unter anderem Bunte, Focus, Playboy und Superillu herausgibt – für große Geldsummen Teile des Mengele-Nachlasses erworben haben. Auch haben sich dutzende Biografien mit dem KZ-Arzt beschäftigt.
Will Guez also auch nur ein Stück von der großen Marketing-Maschinerie, die sich mittlerweile um den Kriegsverbrecher aufgebaut hat, für sich beanspruchen? Meiner Meinung nach nicht. Natürlich kann ich diesen Sachverhalt nicht richtig beurteilen, aber in der Art und Weise wie der Autor über Mengele schreibt, schwebt immer eines mit: Verachtung. Ich glaube, Guez wollte an diesen Kriegsverbrecher erinnern, um vor solchen Menschen zu warnen.
Immer nach zwei oder drei Generationen, wenn das Gedächtnis verkümmert und die letzten Zeugen der vorherigen Massaker sterben, erlöscht die Vernunft, und Menschen säen wieder das Böse … Nehmen wir uns in Acht, der Mensch ist ein formbares Geschöpf, nehmen wir uns vor den Menschen in Acht.
Der Umstand, dass dieser Mann, der solch unerträgliche Taten begangen hat, bis zum Ende unbestraft davongekommen ist, empört Guez. Die Hoffnung, dass so etwas nie wieder passiert, treibt ihn an.
Ohne Gnade
Mengele ist in der Ausführung seiner Tätigkeit in Auschwitz eiskalt und emotionslos, in keiner Sekunde überkommt diesen Mann Mitleid. Er möchte die Karriereleiter noch weiter nach oben klettern und dementsprechend skrupellos agiert er in der Selektion der Gefangenen. Alles geschieht zu seinem eigenen Vorteil. Es ist nur konsequent, dass Guez diese menschenunwürdigen Stellen im Nacherzählen des Lebens von Mengele genauso distanziert beschreibt, wie sie der Arzt wohl selbst erlebt hat. Hart zum Lesen sind diese Momente sowieso. Aber die Erzählart von Guez lässt uns den Atem noch mehr stocken. Wenn der Autor detailliert von der Kinderaugensammlung Mengeles berichtet, so nimmt man erst einmal tief Luft und legt das Buch für einige Minuten zur Seite. Vieles muss erst einmal sacken und verarbeitet werden. Dass Guez so schonungslos mit seinen Lesern umgeht, finde ich persönlich richtig. In diesem Thema gibt es so etwas wie Sensibilität oder Feinfühligkeit nicht.
Und so bekommt der Leser auch erbarmungslos die Folgen der Flucht präsentiert. Josef Mengele geht es gut. Er lebt in Argentinien unter dem Perón-Regime, welches flüchtige Nazis nicht nur akzeptiert, sondern sogar willkommen heißt. In diesem Zusammenhang lernen wir unter anderem den Luftwaffen-Oberst Hans Ulrich Rudel, Goebbels’ Mitarbeiter Wilfried von Oven und den SS-Obersturmbannführer der Reserve Otto Skorzeny kennen. Diese Menschen werden als wichtiger Bestandteil beim Aufbau einer neuen Ära in Südamerika angesehen. Sie sind schlau und diszipliniert.
Belohnung folgt in Form eines Geldsegens für Mengele. Der Kriegsverbrecher lebt zufrieden, er ist reich, heiratet neu und ist in der Gesellschaft hoch angesehen. Es geht ihm gut. Diese Seiten sind in der Tat schwer zu lesen. Der Mann, der unter anderem Babys lebendig ins Feuer warf oder Müttern die Gebärmutter herausriss, lebte unbehelligt und vergnügt, frei von Lästigkeiten wie Reue, im Gegenteil: Mengele ist von der Richtigkeit seiner Taten in Auschwitz immer noch überzeugt.
In Auschwitz hat er gegen den Zerfall und die inneren Feinde, Homosexuelle und Asoziale, gekämpft; gegen die Juden, die Parasiten, die seit Jahrtausenden den Untergang der nordischen Menschheit betreiben: Sie musste ausgelöscht werden, mit allen Mitteln. Er hat als moralischer Mensch gehandelt. Indem er all seine Kräfte in den Dienst der Reinheit und des schöpferischen Vermögens des arischen Blutes stellte, hat er seine Pflicht als SS-Mann erfüllt.
Man empfindet Wut, weil die Gräueltaten keinerlei Einfluss auf das Leben der Nazis haben. Karma existiert nicht.
Doch das Leben bleibt – zum Glück – nicht so problemlos. Die Schlinge um Mengeles Hals zieht sich immer enger, als der Mossad und die deutsche Staatsanwaltschaft eine kurzweilige, aber ernsthafte Jagd auf ihn beginnen. Er muss sein neues Leben aufgeben. Guez inszeniert diese Auswirkungen der zweiten Flucht auf seinen Protagonisten ebenfalls unerbitterlich. Dieser Mann muss nun leiden, damit das Gleichgewicht, zumindest in dieser fiktiven Welt, wieder hergestellt werden kann. Wir sehen wie Mengele unter der Entfremdung seiner Familie und dem Älterwerden leidet. Und wir empfinden Genugtuung, wenn der Protagonist in seinen Albträumen von seinen Opfern gejagt und gefoltert wird.
Am Ende wird Mengele aber eben doch nicht geschnappt und für seine Verbrechen zur Verantwortung gezogen.
Und dann stirbt er, einfach so. Von einer dunklen Kraft angezogen, taucht er allein, mit gesenktem Kopf, in das türkisfarbene Wasser und lässt sich treiben, spürt weder seinen schmerzenden Körper noch seine erschlafften Organe, lässt sich von der Strömung zum offenen Meer und in die große Tiefe ziehen, als plötzlich sein magerer Nacken steif wird […]. Mengele ertrinkt […], ohne für seine unsäglichen Verbrechen mit der menschlichen Gerechtigkeit oder seinen Opfern konfrontiert worden zu sein.
Diese Zeilen lösen beim Lesen tiefe Unruhe aus. Kann es sein, dass weder die deutsche, die amerikanische noch die israelische Regierung nicht bemüht genug waren, um Mengele zu finden? Wer, wenn nicht jemand, der zig tausende von Menschen auf dem Gewissen hat, ist denn eine Verfolgung wert?
Die Mischung aus Sachbuch und Roman
Das Verschwinden von Josef Mengele verbindet zum einen die neutrale Erzählweise des Sachbuchs mit den persönlichen Noten eines Romans. In diesem Sinne hangelt sich Guez sehr strikt am Protokoll ab, er weiß genau, wo Mengele zu welchem Zeitpunkt war und wie sein Leben in diesem Moment ausgesehen hat. Die persönliche Note hingegen kommt vor allem dann zum Vorschein, wenn es um die Verurteilung der Taten des Protagonisten geht. Aber passt diese Kombination oder ist sie angesichts dieser Thematik eher störend?
Störend nicht, aber oft stellt man sich die Frage, ob es diese persönliche Einordnung von Guez wirklich gebraucht hätte. Dass die Verbrechen Mengeles unverzeihlich und unmenschlich waren, dürfte den meisten Menschen bewusst sein. Wieso brauchen wir also einen individuellen Kommentar, der uns durchgehend daran erinnert? Umgekehrt könnte man genauso argumentieren. Wieso brauche ich diese penibel recherchierten Fakten? Kann der Protagonist nicht losgelößt von all diesen immer wiederkehrenden Jahreszahlen als Monster etabliert werden? Würde nicht die individuelle und fiktionale Sicht des Erzählers auf diese Figur ausreichen? Oft stört diese Vereinbarung. Guez versucht das Innere des Bösen zu begreifen, betrachtet die Dinge aber aus der Sicht eines allwissenden Erzählers, der oft die Distanz verliert.
Wer sollte Das Verschwinden des Josef Mengele lesen?
In Das Verschwinden des Josef Mengele bekommen wir das Leben eines Kriegsverbrechers auf der Flucht vor seiner Strafe präsentiert. Dabei herrscht ein nüchterner, fast dokumentarischer Stil in der Erzählweise. Abgelöst wird dieser, wenn der Autor das Bedürfnis nach dem Einfließenlassen der eigenen Gefühle über den Erzähler hat, wenn das Böse zu überwältigend wird, als dass man es einfach unkommentiert im Raum stehen lassen könnte.
Guez leistet hier einen Beitrag zur Erinnerungsarbeit. Er will sicherstellen, dass wir die abscheulichen Taten dieses Mannes und seiner Freunde niemals vergessen. Und das ist – meiner Meinung nach – auch enorm wichtig.
Dieses Buch wurde für all diejenigen Geschrieben, die sich mit dem Schrecken auseinandersetzen wollen und bereit sind, kleinere Mängel in der Gestaltung der Figuren und der Handlung hinzunehmen, um auf außergewöhnliche Art etwas über das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte zu lernen.