Iain Reid | Die Ergründung der menschlichen Psyche

Iain Reid hat in seiner jungen Karriere erst zwei Romane veröffentlicht, gilt aber bereits als Nachfolger von Stephen King und Alfred Hitchcock. Eine Übertreibung? Im Gegenteil!

Iain Reid wurde 1980 in Kanada geboren und machte sich am Anfang seiner Karriere mit den Sachbüchern One Bird’s Choice: A Year in the Life of an Over-educated, Underemployed Twentysomething Who Moves Back Home und The Truth About Luck: What I Learned on my Road Trip with Grandma einen Namen. In die fiktionale Literatur stieg er mit The Ending ein, danach folgte Enemy. Um diese beiden Werke wird es im folgenden Beitrag gehen.

The Ending – Du wirst dich fürchten. Und du wirst nicht wissen, warum (im Original: I’m Thinking of Ending Things)

Klappentext von The Ending

Eine Frau fährt mit ihrem neuen Freund Jake durch die winterliche Weite Kanadas. Trotz ihrer besonderen Verbindung denkt sie darüber nach, die Sache zu beenden. Und während draußen die Dämmerung das einsame Land in Dunkelheit hüllt, werden drinnen im Wagen Gespräche und Atmosphäre immer unheimlicher: Weshalb hält die Erzählerin einen Stalker vor Jake geheim, der ihr seit längerem Angst macht? Warum gibt Jake nur bruchstückhaft etwas von sich preis? Wort für Wort steigt aus den Seiten ein kaum greifbares Unbehagen auf, denn eines ist von vornherein klar: Das junge Paar steuert unaufhaltsam in die Katastrophe…

Welchem Genre ist The Ending zuzuordnen?

Der Klappentext verspricht eine spannende und beklemmende Atmosphäre. Und die bekommt der Leser auch. Doch der Untertitel Du wirst dich fürchten. Und du wirst nicht wissen, warum deutet es bereits an: Hier hat man keinen offensichtlichen Horror zu erwarten. Die Geschichte ist nicht blutig oder besonders actionreich. Der Grusel bleibt immer subtil, man kann ihn nicht fassen. Das unterschwellige Unwohlsein fühlt man jedoch durch die ganze Geschichte.

The Ending einem bestimmten Genre zuzuschreiben, fällt schwer. Unaufhaltsam vermischen sich hier psychologischer Thriller und menschliches Drama miteinander. In einem von Spannung aufgeladenen Plot halten wir den Atem an, während sich langsam Abgründe bei den Figuren offenbaren. Für alle, die Dinge gerne in Schubladen einordnen, würde ich das Buch am ehesten als psychologischen Spannungsroman betiteln.

Eine intensive Achterbahnfahrt der Gefühle

The Ending spielt mit den Erwartungen des Lesers und schafft es dabei immer wieder, zu überraschen. Gerade scheint man eine Ahnung zu haben, in welche Richtung sich die Handlung entwickeln wird, da geschieht etwas, was einen zweifeln lässt. Und das, obwohl The Ending nicht unbedingt das handlungsreichste Buch ist. Es passiert hier nicht besonders viel – und das ist auch wirklich nicht schlimm. Reid lässt seine Charaktere langsam zum Leben kommen und definiert sie nicht durch Taten, sondern vor allem durch das gesprochene Wort.

Dieser Weg ist neu und gerade deshalb auch so furchtbar angenehm. Hier wird nicht das große Spektakel gezeichnet, das Wichtige findet der Leser in den ganz kleinen Momenten. Wie sieht eine Figur eine andere an? Welche Worte nutzt ein Charakter? Diese Fragen lassen den Leser immer näher an die Lösung des Rätsels kommen. Man muss die Details beachten.

The Ending ist der wohl durchdachteste Roman, den ich seit Jahren gelesen habe. Dass Reid diesen Roman von vorne bis hinten ins letzte Detail geplant hat, merkt man als Leser durchgehend. Scheint es beispielsweise am Anfang noch wenig Sinn zu machen, dass Jakes Freundin, die immerhin die Protagonisten ist und einen Großteil der Geschichte aus ihrem Blickwinkel erzählt, ohne Namen bleibt, so macht diese Entscheidung mit der Auflösung des Romans absolut Sinn. Über solche Eigenarten muss man beim ersten Lesen hinwegsehen und sich darauf verlassen, dass der Autor genau weiß, was er hier tut.

Eingefangen wird die ambivalente Stimmung während des Lesens durch einen Schreibstil, der uns gleichzeitig so nah an die Figuren herankommen lässt, wie es nur möglich ist, aber auch immer eine gewisse Distanz zum wahren Kern der Charaktere behält. Reid schreibt sehr subtil, das gesamte Buch ist geradezu aufgeladen von Symbolik und geheimen Botschaften, gleichzeitig jedoch auch beeindruckend und eindringlich auf den Punkt gebracht.

Diese Intensität kann auch deshalb aufkommen, weil Reid seine Geschichte ohne viele Settingwechsel konzipiert. Ein Großteil der Story spielt im Auto, dagegen wirken die Farm und die Schule geradezu wie Nebenschauplätze. So kann sich der Leser voll und ganz auf die Protagonisten konzentrieren und wird nicht durch die Umgebung abgelenkt.

Einzig die Einbindung einer zweiten Zeitebene lenkt zwischendurch von der angespannten Atmosphäre ab. Die Haupthandlung wird immer wieder durch kleinere, kursiv abgedruckte Abschnitte unterbrochen, in der sich unbekannte Personen über ein tragisches Geschehen unterhalten. Zwar lässt Reid hier nicht durchblicken, inwiefern dieses etwas mit den beiden Protagonisten zu tun hat, der Leser wird allerdings schon einmal mit dem Wissen konfrontiert, dass etwas Schreckliches passieren wird. Dies lässt natürlich den Verlauf der Hauptgeschichte erahnen, mindert  die Spannung bezüglich des Ausganges aber überhaupt nicht, auch, weil Ausmaß und Hintergrund derart überraschend sind.

The Ending überzeugt mit einem überraschenden Twist und lässt den Leser mit einem flauen Gefühl zurück. Auch nach dem Beenden der Lektüre arbeitet die Geschichte noch lange nach, immer wieder denkt man an bestimmte Szenen und erkennt auf diese Weise langsam die Bedeutung verschiedener Dialoge oder Objekte.

Wer sollte The Ending lesen?

The Ending ist vor allem für diejenigen Literaturfans etwas, die überrascht werden wollen und dementsprechend etwas neues, nie zuvor Dagewesenes suchen. Die Empfehlung nach Genre-Präferenz auszusprechen, wäre hier falsch. Vielmehr dürfte dieser Roman die Nerven aller treffen, die das Ungeahnte lieben, die in einem Buch rätseln wollen und sich auf langsame und unkonventionelle Erzählweisen einlassen können.

Enemy (im Original: Foe)

Klappentext von Enemy

Ein Besucher ist etwas höchst Ungewöhnliches auf der Farm von Junior und Henrietta, die sich irgendwo in der kanadischen Einsamkeit zwischen riesige Rapsfelder duckt. Und der seltsame Gast aus der Stadt bringt verstörende Nachrichten: Junior wurde für ein Forschungsprogramm ausgewählt und soll die nächste Zeit weit weg von seiner Farm verbringen … sehr weit weg. So soll sein langweiliges Leben revolutioniert, seine persönliche Entwicklung vorangetrieben werden. Und Henrietta, seine geliebte Frau?
Keine Angst. Für sie wird gesorgt – sie wird seine Abwesenheit noch nicht einmal bemerken …

Welchem Genre ist Enemy zuzuordnen?

Mit seinem zweiten Werk kreiert Reid eine Mischung aus Drama, Spannung und Science-Fiction. Gleichzeitig lässt der Autor jedoch noch stärker philosophische Aspekte in seine Geschichte einfließen. Er stellt die großen Fragen nach dem freien Willen und was es überhaupt bedeutet, ein Mensch zu sein. Welche Werte vertreten wir? Wie gestalten wir unser Zusammenleben? Es scheint fast unmöglich, diese existentiellen Fragen in die Runde zu werfen und gleichzeitig eine spannende Story, bei der der Leser nie die Anspannung verliert, zu erzählen. Doch es gelingt und wirkt nahezu mühelos.

Wir rätseln bezüglich der mysteriösen Aufgabe, die Junior gestellt wird. Und das tun wir eben durch das Stellen von Fragen aus verschiedenen Bereichen. Als Fan von spannenden Geschichten wird man über das unheimliche Forschungsprogramm und dessen wahren Zweck rätseln können, während Freunde der Philosophie vor allem am Auseinanderklamüsern der Gefühle und Beziehungen der Figuren ihren Spaß haben werden. Enemy ist daher am ehesten als philosophischer Roman mit Spannungselementen einzuordnen.

Was würdest du tun?

In diesem Roman sticht die Bedeutung des persönlichen Bezugs zur Story stark heraus. Beim Lesen fragt man sich nahezu durchgehend, wie man selbst in einer solchen Situation agieren würde. Wie würde man beispielsweise mit der Nachricht umgehen, dass man zum Wohle der Menschheit sein alltägliches Leben verlassen muss? Würde man die Nachricht schweren Herzens akzeptieren oder rebellieren? Und wie würde man sich verhalten, wenn der Lebenspartner für eine solche Mission ausgewählt wird? Motivierend oder abweisend? Durch die Geschichte, die Reid mit Enemy erzählt, erfahren wir nicht nur viel über den Charakter der Protagonisten, sondern auch über unseren eigenen. Und damit steigt die Anspannung bezüglich der Auflösung kontinuierlich.

Verstärkt wird diese erneut durch den einzigartigen Stil von Reid. Die gewählten Worte sind perfekt der Geschichte angepasst. Wir spüren die Belastung der Figuren in kurzen, schnörkellosen Sätzen. Und wir finden in der Art und Weise, wie bestimmte Sachen geschrieben sind – beispielsweise im Auslassen der Anführungszeichen bei allem, was Junior sagt – , auch schon erste Hinweise auf des Rätsels Lösung. Wir realisieren all diese Kniffe des Autors, bis zum Ende bleibt uns allerdings verborgen, wie sich die Geschichte auflöst. Viele der Fingerzeige des Autors wird man beim ersten Lesen nicht als solche identifizieren können, erst beim mehrmaligen Lesen wird man bemerken, wie durchdacht das Geschriebene ist.

Die intensive Stimmung wird durch sehr reduzierte Handlungsräume erhöht, so spielt die gesamte Geschichte eigentlich nur in den Räumen der abgelegenen Farm. Hierdurch entwickelt sich immer stärker ein sehr beklemmendes Gefühl, bis die Figuren, und auch die Leser, das Gefühl haben, auf dem Anwesen eingesperrt zu sein – psychisch sowie physisch.

In Enemy stehen die existentiellen Fragen im Mittelpunkt. Oft überlegen wir gemeinsam mit Junior seitenlang, was es eigentlich bedeutet, sich in den Dienst einer größeren Sache zu stellen und die eigenen Bedürfnisse zu ignorieren. In diesen Momenten fällt der Aspekt eines Thrillers komplett aus der Story heraus, Spannung bleibt trotzdem durchgehend bestehen.

Wer sollte Enemy lesen?

Bei diesem Roman muss man sich auf die besondere Erzählweise des Autors einlassen. Reid baut die Geschichte langsam, ruhig und durchdacht auf, bevor der große und überraschende Knall kommt. Es ist die ungewöhnliche Kombination aus raffinierter Spannung, emotionalem Beziehungsdrama und philosophischem Hinterfragen aller bestehender Gewissheiten, die Enemy so einzigartig macht.

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