Der Gefangene ist eine sechsteilige Dokumentationsreihe auf Netflix, die die Geschichte rund um die Ermordung von Debbie Sue Carter im Jahr 1982 und die darauffolgende Verurteilung von Ron Williamson und Dennis Fritz erzählt. Die Serie beruht auf dem Sachbuch The Innocent Man von John Grisham.
Ein Thema wird von Netflix immer wieder in verschiedenen Dokumentationen aufgegriffen: Kann ein Mensch ein Verbrechen gestehen, obwohl er es nicht begangen hat, weil er bei seiner Aussage so sehr unter Druck steht? Es ist eine im 21. Jahrhundert immer realer und allgegenwärtiger werdende Angst, unschuldig im Gefängnis zu landen. Mit einem solchen Fall beschäftigt sich der Streaming-Dienst in seiner Eigenproduktion Der Gefangene. Denn Ron Williamson und Dennis Fritz sind tatsächlich unschuldig, als sie für den Mord an der 21-jährigen Debbie verurteilt werden – Fritz zu lebenslanger Haft, Williamson sogar zur Todesstrafe.
John Grisham ist bei Der Gefangene ausführender Produzent, Clay Tweel führt Regie. Sie inszenieren ihre Erzählung der Ereignisse in den für True-Crime-Dokus mittlerweile gewohnten Schritten. Durch das Nutzen von Interviewsequenzen, Video- und Tonaufnahmen sowie originalen Fotos bekommt der Zuschauer das Gefühl, sehr nah am Verbrechen zu sein. Was stört, sind die mit Schauspielern nachgestellten Schlüsselszenen. Sie sind zu dramatisch, zu reißerisch, zu sehr auf den Schock der Zuschauer ausgelegt. Und doch nehmen sie das Publikum mit auf die Reise durch einen skandalösen Justizirrtum, der mit der Ermordung von Debbie Sue Carter beginnt.
Der Mord an der jungen Frau ist widerwärtig, wird aber ausführlich beschrieben. Der Zuschauer hat hier keine Schonung zu erwarten. Die Kellnerin wird tot in ihrer Wohnung in der Kleinstadt Ada im US-Bundesstaat Oklahoma aufgefunden. Der Täter hatte sie nicht nur ermordet, sondern auch vergewaltigt und mit einer Ketchup-Flasche sexuell gefoltert. Die Polizei tappt zunächst im Dunkeln, verdächtigt dann die stadtbekannten Trinker Williamson und Fritz, weil diese kein Alibi vorweisen können. Die Männer werden zu Hauptverdächtigen, doch mangels Beweisen müssen sie laufen gelassen werden. Ein weiterer Grund für das Interesse der Ermittler an Williamson und Fritz liegt in der Aussage einer Freundin des Opfers, die Männer hätten Debbie nervös gemacht. In diese Richtung geht auch die Angabe von Glen Gore, der sich als guter Freund des Opfers präsentiert. Mag sein, aber macht sie das direkt zu Mördern? In den Augen der Polizei schon.
Fünf Jahre später, im Jahr 1987, sitzt Williamson aufgrund eines Fälschungsvergehens im Gefängnis. Er berichtet einem Mitgefangenen von einem Traum, in dem Debbie Sue Carter eine Rolle spielt. Der Zellenkollege geht daraufhin zur Polizei und berichtet von diesem Gespräch. Man sollte nun meinen, dass Gesetzeshüter zwischen Unfug und Beweisen unterscheiden können. Falsch gedacht. Die Polizei in Oklahoma wertet diese Aussage nämlich als einwandfreies Geständnis. Da passt es natürlich, wenn Dennis Fritz nur wenige Tage später den Mord an Debbie gesteht – ein von den Ermittlern erzwungenes und zurechtgebogenes Geständnis, wie sich später herausstellen wird.
Der leitende Staatsanwalt Bill Peterson – der in dieser Doku eindeutig die Rolle des Antagonisten zugeschrieben bekommt – hat also die Täter gefasst, mitsamt zwei “Geständnissen“. Doch der Fleiß des Mannes lässt in diesem Moment nicht nach, er will die Schuld der beiden Männer noch durch handfeste Indizien untermauern – und bedient sich der Haaranalyse, welche in den 1980ern noch nicht einmal ein anerkanntes forensisches Verfahren darstellte. Trotzdem werden Williamson und Fritz verurteilt und sitzen die nächsten elf Jahre im Gefängnis.
Dann wurde das “The Innocence Project“ durch einen von Fritz geschriebenen Brief auf den Fall aufmerksam. Die Non-Profit-Organisation hat es sich zur Aufgabe gemacht, Justizirrtümer aufzuklären. Sie sorgte dafür, dass die Anklagen gegen Williamson und Fritz zusammengelegt wurden, also als ein Fall betrachtet werden konnten. Und sie beantragten schließlich auch die zur Freilassung der Männer führenden DNA-Spuren-Tests im Jahre 1998. Das Ergebnis: Die DNA der Freunde stammt nicht mit der am Tatort gefundenen überein. 1999 wurden die Männer schließlich freigelassen. Williamson hätte in fünf Tagen hingerichtet werden sollen.
Doch die sichergestellten Spuren verlaufen keineswegs im Sande. Sie passen zu Glen Gore, dem “guten Freund“ von Debbie und einem der Hauptzeugen gegen Williamson und Fritz. Er wird später für den Mord verurteilt.
Vor allem die Geschichte von Williamson ist voller Tragik. In jungen Jahren als Baseball-Wunderkind gefeiert, erkämpft er sich trotz psychischer Erkrankung seinen Weg nach oben und spielt schließlich sogar für die New York Yankees, eines der berühmtesten Baseball-Teams der Welt. Dann kommt eine Schulterverletzung, der Umzug in seine alte Heimatstadt Ada – und die Verurteilung zum Tode. Und mit ihr eine Verschlimmerung seines mentalen Zustandes, Williamson litt schon immer unter Depressionen, auch wurde eine bipolare Störung bei ihm diagnostiziert. Im Gefängnis geht es ihm schlechter und schlechter. Als er 1999 freigelassen wird, ist sein Zustand schon zu weit fortgeschritten – er verstirbt fünf Jahre später, im Alter von nur 51 Jahren, an einer Leberzirrose.
Doch Grisham hört nicht mit dem Fall rund um Williamson, Fritz und Carter auf, sondern beschreibt einen weiteren, sehr ähnlichen. Auch er spielt sich in der Kleinstadt Ada ab. Tom Ward und Karl Fontenot werden 1985 als Mörder der damals 24-jährigen Denice Haraway verurteilt – weil sie berichten, dass sie von der jungen Frau geträumt haben. Es ist nicht überraschend, dass auch in diesen Fall Staatsanwalt Bill Peterson involviert ist. Diese beiden Männer werden bei Abschluss der Dreharbeiten immer noch im Gefängnis sitzen, sie werden nicht so viel Glück im Unglück haben wie Williamson und Fritz. Sie werden unter die vier Prozent aller Häftlinge in den Vereinigten Staaten fallen, die zu Unrecht verurteilt wurden. Ungefähr 120.000 Menschen sitzen unschuldig im Gefängnis – manche von ihnen sogar im Todestrakt.
Neben diesen vier Männern stehen noch andere Menschen im Mittelpunkt. Eindrucksvoll und bedrückend zugleich ist diese True-Crime-Serie immer dann, wenn die Familie von Debbie zu Wort kommt. Und es zerreißt uns Zuschauern das Herz, wenn wir die Mutter des jungen Mordopfers sehen. Sie ist eine ältere Dame, die mittlerweile an den Rollstuhl gefesselt ist – und sich bis heute große Vorwürfe macht. Denn ihre Tochter wurde mit dem Kabel einer Heizdecke erwürgt. Diese war ein Geschenk von ihr an Debbie. Bis heute fühlt sie sich schuldig.
In Der Gefangene führen zahlreiche Handlungsstränge, Interviews und Beweismaterialien zur Annahme, dass in Ada vier Männer unschuldig wegen Mordes verurteilt wurden. Die Rolle des Staatsanwaltes und der Polizei kann – gelinde ausgedrückt – als fragwürdig eingestuft werden. Grisham und Tweel führen die Ermittler nicht so provokant vor, wie dies die Macher von Making a Murderer einst taten, sie äußern jedoch sehr bestimmt, dass sie die Vermutung einer Verschwörung hegen. Und so endet die sechsteilige Dokumentation, der Zuschauer ist bestürzt, verzweifelt und sich nur in einer einzigen Sache wirklich sicher: Dem Justizsystem der Vereinigten Staaten würden einige grundlegende Reformen sehr gut tun.