In Quicksand, der neuen sechsteiligen Netflix-Serie aus Schweden, kommt es zu einem Amoklauf an einem Stockholmer Gymnasium. Mittäterin soll die junge Maja sein, doch die kann oder will sich nicht an die Geschehnisse erinnern. Als Vorlage zu dieser Verfilmung dient der Roman Im Traum kannst du nicht lügen der Schwedin Malin Persson Giolito. Dieser wurde 2016 von der Schwedischen Krimiautoren-Akademie zum besten Krimi des Jahres gewählt. Doch kann auch die Serie überzeugen?
Wir starten mit schockierenden Bildern. Der Amoklauf hat scheinbar gerade stattgefunden, der Zuschauer sieht Blutlache über Blutlache. Handys klingeln, doch es nimmt keiner ab. Alle sind tot – bis auf Maja, die für den Rest der Serie und bei der Aufarbeitung der Ereignisse als Protagonistin agiert. Zunächst wirkt sie auf den Zuschauer wie eine Überlebende, wie diejenige, die sich dem Amoklauf entziehen konnte. Vielleicht hatte sie sich versteckt oder einfach nur Glück. Doch schnell dreht sich die Wahrnehmung: Maja ist nicht etwa Opfer, sie ist Täterin oder zumindest Mittäterin. Als solche wird sie dann auch von der Polizei verhaftet und in Untersuchungshaft gesteckt. Der maßgebliche Täter, der 18-jährige Freund von Maja, Sebastian, ist tot. Doch welche Rolle spielt sie bei der Tat?
Quicksand inszeniert den Gewaltakt, den sich die Macher von Tote Mädchen lügen nicht am Ende der zweiten Staffel nicht zu erzählen getraut haben. Dafür muss man diese Serie erst einmal respektieren. Nicht jeder traut sich, einen Amoklauf in eine fiktive Story zu packen, zu viele Stolpersteine bietet dieser Weg oder anders gesagt: Die Chance auf einen Shitstorm ist riesig. Zu allgegenwärtig sind die Taten von Winnenden, Parkland oder anderen Bildungseinrichtungen. Die Liste von Amokläufen an Schulen ist erschreckend lang. Doch Quicksand lässt sich hiervon nicht beirren, die Serie greift mutig das aktuelle Thema auf. Die Schüsse fallen in dieser Geschichte wirklich, die Situation ist eskaliert. Niemand konnte den (oder die?) Täter vorher durch einfühlsame Monologe über die Schönheit des Lebens aufhalten. Quicksand ist sich der Reichweite seines Hauptthemas zu jedem Zeitpunkt bewusst. Wer an dieser Stelle jedoch ein Justizdrama erwartet, der wird enttäuscht sein. Die juristischen Aspekte des Amoklaufs werden eindeutig zurückgestellt, es geht um die Figuren, vor allem um Maja.
Der Zuschauer sieht sie am Anfang zutiefst verstört und beginnt zu zweifeln, ob sie wirklich etwas mit der Tat zu tun hatte. Lange steht eine junge, verwirrte 18-Jährige im Fokus der Kamera, die man einfach nur beruhigen und umarmen möchte. Maja gibt uns zunächst keine brauchbaren Informationen zum Tathergang, sie ist in einer Schockstarre gefangen.
Quicksand arbeitet mit Szenen der Gegenwart, in denen die junge Frau in der Isolation der Untersuchungshaft verzweifelt und erzählt schließlich auch von dem Prozess, in dem ihre Rolle bei der Tat ermittelt werden soll. Abgelöst wird dieser Zeitstrang von zahlreichen Retrospektiven, die dem Zuschauer den Weg bis zu diesem schrecklichen Tag schildern und ihn immer mehr über die Protagonistin erfahren lassen. Schon sehr bald, in einer dieser vielen Rückblenden, wird Maja für den Bruchteil einer Sekunde mit dem Finger am Abzug eines Gewehrs zu sehen sein. Ihr Freund Sebastian, der ebenfalls ein Gewehr trägt, bricht tot vor ihr zusammen. Doch was genau ist da vorgefallen? Quicksand lässt keine Fragen unbeantwortet, alles wird logisch und zufriedenstellend aufgelöst. Aber zunächst wird Majas Geschichte erzählt.
Alles beginnt wie in einem Traum. Maja trifft auf Sebastian, der ebenfalls auf ihre Schule geht. Die beiden verlieben sich und verbringen, wie es sich für die wohlhabende Elite Schwedens eben gehört, die Ferien auf der Jacht von Sebastians Vater – samt vierzehn Crewmitgliedern. Es wird vom schönen Leben erzählt, in dem andere Menschen sich um die Probleme kümmern. Man selbst ist schließlich zu beschäftigt und zu reich, um sich Gedanken zu machen. Es gibt Momente, in denen Quicksand stark nach dem Motto “Geld verdirbt den Charakter“ agiert. Manche Szenen beäugt der Zuschauer kopfschüttelnd, so unglaublich überheblich und unsympathisch verhalten sich die Figuren. Und das gilt wohlgemerkt nicht nur für Maja und Sebastian. Reiche Jugendliche umgeben sich schließlich nur mit ihresgleichen. Das treibt die Charakterentwicklung dann nicht gerade positiv voran. Es wäre übertrieben, Quicksand als ausgeklügelte Milieustudie zu bezeichnen. Aber die Show gibt Einblicke in die Lebenswelt der Privilegiertesten. Der Schulweg im Porsche, Urlaub auf der Privatjacht und ausschweifende Partys in heimischen Villen sind ganz normal. Der einzige Charakter, der aus diesem Pool an Überheblichkeit heraussticht, ist Samir. Er ist nicht in Schweden geboren, sondern mit seiner Familie als Flüchtling nach Stockholm gekommen. Sein Vater ist Taxifahrer, seine Mutter Krankenschwester. Er will es mit Fleiß und Ehrgeiz zu etwas bringen – ohne das Geld reicher Eltern im Rücken zu haben. Die Sympathie, die man zu Beginn für diese Figur spürt, wird noch schwinden.
In der Beziehung zwischen Maja und Sebastian wird schnell deutlich, dass die beiden verschiedene Prioritäten haben. Während die junge Frau eine gewissenhafte Schülerin ist, lebt Sebastian für den Kick. Er stürzt sich von Party zu Party, ist von selbstzerstörerischen Gedanken geplagt und will sich mit Drogen betäuben. So weit kann es kommen, weil der Vater sich so gut wie nie Zuhause aufhält. Wenn er dann doch ausnahmsweise da ist, dann lässt er seinen Sohn spüren, wie sehr er ihn hasst – zu sehr erinnert er ihn an seine Ex-Frau. Sebastians Charakterzeichnung ist nicht unbedingt kreativ. Er steht für die jugendliche Elite, die zwar Geld ohne Ende zur Verfügung hat, jedoch niemanden, der seine Wünsche reguliert und kontrolliert. Er ist das Ergebnis einer dysfunktionalen Familie, in der alles mit Geld geregelt werden kann und dementsprechend auch keine moralischen und gesellschaftlichen Werte vermittelt werden müssen. Die braucht es nun wirklich nicht, wenn man schicke Anwesen und noch schickere Boote besitzt. Das ist keine tiefgründige Psychologisierung einer Figur. Kaputte Haushalte führen nicht zwangsläufig zu dem Drang, ein Blutbad zu veranstalten. Doch diese Figur muss auf diese Art und Weise skizziert werden, damit Maja ihren Weg gehen kann.
Die Beziehung zu Sebastian wird zu ihrer ganz eigenen Sucht, sie kommt nicht von ihm los. Sein Auftreten zieht die intelligente Maja magisch an. Sie droht sich zunehmend in einer toxischen Partnerschaft zu verlieren. Das junge Mädchen wird immer abhängiger von ihrem Freund, sie rennt ihm hinterher, toleriert seine Gewaltausbrüche, seine Ausraster, schließlich sogar eine Vergewaltigung. Wieso sie das tut, spricht Quicksand nicht eindeutig aus. Der Zuschauer soll spekulieren und das ist auch gut so. Wir sind hier nicht bei Tote Mädchen lügen nicht, wir bekommen nicht alle 5 Minuten um die Ohren geworfen, wer die Guten und wer die Bösen sind und wieso alle Figuren eigentlich tun, was sie tun. Wir müssen selbst darüber nachdenken, wieso Maja handelt, wie sie handelt. Auch, weil die Geschichte aus ihrer Perspektive erzählt wird. Die junge Frau wird in jeder einzelnen Szene gezeigt, sie steht im Mittelpunkt. Und so erfahren die Zuschauer auch nur durch sie, was vor dem Amoklauf passiert ist. Informationsschnipsel erhalten wir durch Verhöre mit der Staatsanwaltschaft oder kurze Erinnerungsfetzen.
Was ist es also, das Maja antreibt? Ist es Liebe? Ist es der Beschützerinstinkt? Ist es die Hoffnung auf ein gutes Leben mit einem reichen Jungen? Vielleicht ist es eine Mischung aus all diesen Faktoren. Viel interessanter ist jedoch: Ist Maja so abhängig von Sebastian, dass sie für ihn töten würde?
Doch nicht nur diese Fragen stellt Quicksand. Wie so oft sitzt der Zuschauer vor seinem Fernseher und fragt sich, wieso um Himmels Willen kein Erwachsener etwas unternimmt. Von Sebastians Vater kann keine Hilfe erwartet werden, das wurde als Fakt etabliert. Aber was ist mit Majas Eltern? Nun, die werden auch nicht gerade von einer glanzvollen Seite präsentiert. Vor allem der Mutter scheint bei dem Gedanken, dass ihre Tochter mit dem Sohn eines berühmten Millionärs zusammen ist, geradezu schwindelig vor Freude zu werden. Nur so lässt sich erklären, dass es keine erzieherisch wertvolle Standpauke donnert, als Maja von einer Party bei Sebastian angetrunken, nach Rauch stinkend und vor allem nur im Nachthemd nach Hause kommt. Es wird kurz geplaudert. Mehr passiert nicht. Ehrliche oder gar einfühlsame Kommunikation findet in dieser Familie also ebenfalls nicht statt. Auch nicht, als sich Sebastian zugedröhnt bei Majas Geburtstagsfeier mit der Familie daneben benimmt. Es wird kurz darauf bestanden, dass die Tochter nicht mit ihrem Freund nach Hause fährt, Maja motzt und verhält sich wie eine Jugendliche dies eben tut und Mama und Papa geben erschöpft nach. Die Serie spricht häufig die Verantwortung der Eltern an, sie betont, dass es zu deren Aufgaben gehört, sich um ihre Kinder zu kümmern, zu merken, wenn es ihnen schlecht geht und sie darauf anzusprechen, bis sie eine Antwort bekommen.
Es ist schade, dass Quicksand in seinem subtilen Aufruf nach moralischem Handeln und Miteinanderleben sowie in der durchdachten Charakterentwicklung nahezu perfekt geraten ist, bei der Optik jedoch grandios versagt. Hier wird alles zu offensichtlich inszeniert. So sind die für Maja positiven Rückblenden farbenfroh und hell gestaltet, während die düsteren Erinnerungen abgedunkelt und fast schon gräulich inszeniert sind. Das ist unkreativ und für die Serie untypisch, aber gerade deswegen auch so ärgerlich.
Das Interesse des Zuschauers hält Quicksand jedoch konstant aufrecht. Vor allem deshalb, weil die Macher bis kurz vor Schluss mit der Ungewissheit spielen, ob Maja nun schuldig oder unschuldig ist. Am Ende zeigt die Serie ein Urteil und eine Wahrheit.
Fazit
In Quicksand stürzt eine Eliteschülerin ab. Immer tiefer versinkt sie in Treibsand, sie wird in den Abgrund gezogen, ohne dass sie etwas dagegen unternimmt. Die Serie funktioniert in diesem eindrucksvollen Maße, weil die Wahrnehmung des Zuschauers gegenüber der Protagonistin so stark schwankt: Ist sie Opfer oder Täterin? Diese Zerrissenheit der Figur wird durch die schwedische Schauspielerin Hanna Ardéhn perfekt inszeniert. Sie spielt die Maja wirklich beeindruckend, scheint jede noch so kleine Facette dieses Charakters geradezu aufzusaugen. Das ist umso beachtlicher, bedenkt man, dass ihre Figur nicht als Sympathieträgerin auftreten soll. Sie vereint das nette Mädchen, den unausstehlichen Teenager und die Verdächtige brillant. Fesselnd ist die schwedische Produktion nicht nur wegen ihrer Hauptdarstellerin. sondern auch dank der kurzen Laufzeit. Sechs Folgen à etwa 45 Minuten bieten sich perfekt zum Binge Watching an. Alleine deshalb ist es wirklich zu empfehlen, dieser Serie eine Chance zu geben. Wenn man sich auf eine ausdifferenzierte Teenagergeschichte einlässt, wird man von Quicksand begeistert sein.